Bergstürze in Graubünden
Prähistorische Bergstürze
Unsere Landschaft ist infolge natürlichen Geschehens und menschlicher Eingriffe in ständigem Wandel begriffen. Zu den grossartigsten Naturereignissen, welche eine Gegend jählings umzugestalten vermögen, gehören die Bergstürze. Die Flimser Trümmermassen, die grössten der Alpen, gehören sicherlich zu den bekanntesten. Sie stauten einen grossen See, der einst bis weit ins Vorderrheintal zurückreichte und sich erst vollständig entleerte, nachdem der Talfluss das Hindernis durchfressen hatte. Östlich der Rheinschlucht fuhr aus der heutigen Kunkelsnische ein Bergsturz zu Tale und häufte den mehr als 150 m hohen Schuttkegel Ils Aults («die Anhöhe») auf. Auch hier staute sich ein See, bevor der Rhein sein neues Bett gegraben hatte. Weit weniger mächtig ist das vom Calanda stammende Dutzend runder Trümmerhaufen in der Talebene von Ems. Diese Hügel, romanisch «Tumas», sind derart auffällig, dass man in Fachkreisen geradezu von einer Tuma-Landschaft spricht. Übrigens: der Name Calanda kommt von calare/ «herablassen», «abrutschen», «abgleiten» und ist in Graubünden recht verbreitet, wenn auch gelegentlich in etwas abgewandelter Form.
Ebenfalls am Ende der Eiszeit schuf ein Bergsturz die Schwelle am Wolfgang. Diese versperrte den ursprünglichen Abfluss aus der Landschaft Davos in Richtung Prättigau. Es kam zum Aufstau eines Sees, der sich über die ehemalige Wasserscheide zur Albula hin einen Ablauf verschaffte und damit die Talrichtung umkehrte. Übrig geblieben ist der Wolfgangpass und der hübsche Davoser-Restsee. Weniger folgenschwer war der Bergsturz von Valbella. Er überdeckte zwar das Passgebiet zwischen Lenzerheide und Parpan mit Trümmermassen, ohne aber die Abflussverhältnisse wesentlich zu verändern. Dies war schon viel früher geschehen, als der sogenannte «Ostrhein» noch durch das Oberhalbstein und über die Lenzerheide geradewegs ins Churer Rheintal floss, vom Domleschg her aber angezapft und schliesslich durch den Schyn in den Hinterrhein umgeleitet wurde. Auch das Oberhalbstein hat seinen prähistorischen Bergsturz. Er schuf einen See und die heute bewaldete Steilstufe zwischen Rona und Tinizong und damit die Grenze zwischen Sur Got («ob dem Wald») und Sut Got («unter dem Wald»). Ein Vergleich mit Surselva und Sutselva, aber auch mit Ob- und Nidwalden drängt sich auf.
Für das Puschlav hat der nacheiszeitliche Bergsturz von Miralago entscheidende Wirkung gezeitigt. Er verstopfte das Tal, ein See entstand. Unterhalb desselben grub sich der Poschiavino in steiler Schlucht den Weg nach Brusio und in einer weiteren Stufe schliesslich ins Veltlin. Die Stauwirkung von Bergstürzen und Gehängeschutt habe die beiden oberen Talverflachungen von Cavril und Casaccia-Löbbia im Bergell sowie des Pian San Giacomo im Misox gebildet. Weniger einschneidend, aber im heutigen Landschaftsbild durch bewaldete Hügel deutlich erkennbar, wirkte sich weiter talabwärts der Bergsturz von Norantola-Sorte aus.
Bergstürze der Neuzeit
All dies waren vorgeschichtliche Naturereignisse. Aber auch zur Zeit des Bündnerischen Freistaates ereigneten sich mehrere Bergstürze, von denen die Einheimischen auch heute noch zu berichten wissen. So kamen beim Unglück von Zarera, 7 km nördlich von Poschiavo, im Jahre 1486 rund 300 Menschen ums Leben. Vom ehemaligen Dorfe zeugen heute nur noch die «Ruini di Zarera».
1618 vernichtete ein Bergsturz das reiche Städtchen Plurs in der Grafschaft Cläven, indem er mehr als 1500 Menschen und 130 Häuser unter sich begrub. Die Trümmermassen sind heute noch zu erkennen, wenn auch durch die Prati Ruina («Trümmerwiesen») längst überwachsen. Ein neues Plurs ist etwas abseits davon als Borgonovo («neue Ortschaft») wiedererstanden, hat aber seine frühere Bedeutung nie wieder erlangt.
Unterhalb Disentis begrub 1683 ein Felssturz die Weiler Brulf und Valentin, wobei 22 Menschen den Tod fanden. 17 Menschenleben waren 1770 zu beklagen, als ein Felssturz den Weiler Monbiel bei Klosters weitgehend zerstörte. Ebenfalls Menschenopfer forderte 1939 ein Felssturz ein Felssturz vom Flimserstein.
1987 mussten wir erleben, wie auch heute noch Naturereignisse das Landschaftsbild nachhaltig verändern können, indem ein Bergsturz an der Südgrenze der ehemaligen Grafschaft Worms das Tal verschüttete und einen grossen See bildete. Die Verbindung vom Veltlin nach Bormio wurde für Monate unterbrochen. Auch hier waren Menschenleben zu beklagen.
Das Bergsturzereignis 2017 in Bondo und die latente Rutschgefahr der Brienzer Terrasse schliessen diese Reihe nur vorläufig ab.
Nicht als schlagartiges Unheil, sondern in stetem Wachstum entstanden im Laufe der Zeit – von Seitenbächen genährt – an den Flanken der Täler mächtige Schuttkegel. Diese verengten das Bett des uneingedämmten Hauptflusses, welcher seinerseits den unteren Rand der Schuttmassen annagte. Es bildeten sich auf diese Weise steile Böschungen, die auf weiten Strecken heute noch die Begrenzung des einstmals häufig überschwemmten Talgrundes erkennen lassen. Besonders das Churer Rheintal zeichnet sich durch girlandenförmige Schuttkegel aus, die talseits vom Rhein derart angefressen sind, dass eine fast zusammenhängende Böschung entstehen konnte. Von den Einheimischen wird sie Ribord/Riport («Rheinbord», «Rheinböschung») geheissen. Die Romanen und Italienischsprachigen nennen einen derart entstandenen Abhang Riva («Ufer»). Daraus ist im Domleschg die Flurbezeichnung Realta («Ripa alta», «hohes Ufer», «hohe Böschung» ) entstanden, welche auch den beiden Burgen Niederrealta und Hochrialt/Hohenrätien den Namen gab. Der flussnahe Ortsteil von Rona im Oberhalbstein heisst Rieven («Rain», «Bord» und bei Madulain und Zuoz werden heute in Suotarivas («unter der Uferböschung») Wiesen genutzt, wo früher der Inn in seinen Schottermassen hin und her pendelte. Ein hübsches Beispiel bündnerischer Mehrsprachigkeit steckt im Namen «Rifabord», mit welchem die Grüscher die Böschung des Taschinasbach-Schuttkegels gegen die Landquart hin bezeichnen.
Auch wenn Schuttmassen in Seen abgelagert werden, vermögen sie das Landschaftsbild nachhaltig zu verändern. Einst breitete sich von Maloja bis Champfér eine einzige Wasserfläche aus. Sie wurde von den Seitenbächen an mehreren Stellen eingeengt und schliesslich in drei Seen unterteilt. Im oberen Münstertal hat einst der Schutt aus der Val Ruina einen See aufgestaut, der allmählich versumpfte und heute trockengelegt ist. Die so entstandene Ebene heisst noch immer Palü dals Lais («Sumpf der Seen»).
Der Puschlaver Bergsturzsee reichte einst bis in die Gegend des Hauptortes zurück, wurde aber durch den Talfluss und seitliche Schuttkegel fast auf ein Drittel seiner ursprünglichen Grösse zurückgedrängt. Die Bergsturzseen im Misox und Oberhalbstein sind längst wieder aufgefüllt. Der Pian San Giacomo und die Palecs («Sümpfe») von Rona erinnern noch daran.
Wo sich der Talfluss in die ehemaligen Seeablagerungen eingrub, entstanden deutlich erkennbare Hochflächen – häufig Boden oder Plaun («Ebene») geheissen. Als wohl schönstes Beispiel hierfür gilt die Ebene von Rhäzüns-Bonaduz, die zum Namen Il Plaun oder Imboden geführt hat. Darunter versteht man heute allerdings das viel weiter gefasste Gebiet des gleichnamigen Bezirks. Weitere solche Böden entstanden seinerzeit im Gross-Davosersee als Ablagerungen von Seitenbächen, heute noch deutlich erkennbar im Wildboden, Junkerboden, Hitzenboden und auf der Lengmatte. Schliesslich hat auch der ehemalige Stausee hinter dem Flimser Bergsturz in der Gruob, romanisch La Foppa («die Grube») prächtige Böden hinterlassen, wie etwa der Plaun da Sagogn oder die Geländestufen von St. Martin und gegenüber die Tschentaneras von Sevgein und Castrisch. In den Trümmermassen des Flimser Bergsturzes hatten sich mehrere Seen gebildet. Ihr bekanntester ist der Caumasee, deren grösster aber schuf die prächtige Mulde von Trin Mulin; daher der Name Laghizun.
Die bedeutendsten Seeaufschüttungen im Dreibündestaat aber verdanken wir Mera und Adda im Gebiet des oberen Comersees. Die Mera schuf den Piano di Chiavenna, eine rund 12 km lange und bis zu 3 km breite Aufschüttungsebene. Der Bezeichnung Samòlaco («zuoberst am See») nach zu schliessen, reichte der See noch in geschichtlicher Zeit rund 5 km weiter nach Norden. Die Adda ihrerseits schüttete nicht nur den weit nach Osten ins Veltlin hineinreichende Comerseearm zu, sondern sie schnürte mit ihrem riesigen Schutffächer den gegen Chiavenna gerichteten nördlichen Seearm ab. Es entstand die Sumpfebene des Piano di Spagna («Ebene Spaniens»). Diese erhielt ihren Namen wegen der Festung Fuentes, von der aus die Spanier die Gegend beherrschten. Die Adda aber, durch ihre eigenen Schuttmassen am geraden Lauf in den Comersee gehindert, floss hier nach Norden in den abgeschnürten Laghetto Superiore («Oberes Seelein»), heute Lago die Mezzola. Der Name Bocca d’Adda («Mündung der Adda») am Südrand dieses Sees erinnert noch an den ehemaligen Flusslauf. Die Moesa füllte ihrerseits einen Arm des Langensees auf und bildete so die rund 1 km breite Talebene des unteren Misox. Die grösste Seeaufschüttung im Gebiet des heutigen Graubündens aber fand im Rheintal statt, dehnte sich doch der Bodensee vor rund 10’000 Jahren bis zum Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein bei Reichenau aus.